René Welter
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Veröffentlicht: 08.05.2019
René Welter, Mainz
Es heißt, wir leben in postfaktischen Zeiten. Im März 2016 analysierte die Historikerin und Harvard-Professorin Jill Lepore in einem Essay für The New Yorker mit dem Titel After the fact. In the history of truth, a new chapter begins einen gesellschaftlichen Diskurs, welcher sich zunehmend jenseits einer allgemeingültigen Wahrheitskonvention, im irrationalen Raum von Willkür und Gefühl abspiele.[1]
Unter Berufung auf Michael P. Lynchs pessimistische Darstellung der degenerativen hermeneutischen Korrelation von Wissen und Verstehen im Google-Zeitalter in dessen Buch The Internet of Us: Knowing More and Understanding Less in the Age of Big Data warf sie die Frage auf, inwieweit eine Gesellschaft, die ihr Wissen verstärkt in Echtzeit aus einem globalen Datenvorrat schöpft und ‚reale‘ Fakten zunehmend negiert, überhaupt noch selbstständig in der Lage ist zu erkennen.
Vernunft als Basis von Erkenntnis und damit auch Verantwortung für die eigenen Überzeugungen werde vielfach aufgegeben, so Lepore. Rationalität habe sich verlagert, sei geschrumpft zur schlichten ratio; vom Menschen abgeschoben in den binären Kosmos vermeintlicher digitaler Perfektion. – Am neunten Dezember 2016 wählte die Gesellschaft für deutsche Sprache ‚postfaktisch‘ zum Wort des Jahres.
Die Geburt des Pessimismus aus dem Geiste der Vernunft
Der Gedanke ist keineswegs neu. Die Erschütterung des Primats der Vernunft und die Auflösung universaler Wahrheitsansprüche sind Grundmerkmale der Postmoderne. Für deren wohl wichtigsten Propheten Friedrich Nietzsche stand fest: Es gibt keine Wahrheit jenseits der Perspektiven. Durch unsere Perspektiven schaffen wir selbst erst die Räume, in denen etwas als wahr gilt. Jedes vermeintlich objektiv wahre Urteil über die Welt ist Ausdruck unserer perspektivischen Interpretation derselben im Willen zur Macht – zur Schaffung der „Täuschung des Seienden“ als Grundlage von Erkenntnis einer eigentlich „unformulirbar[en]“, substanzlosen, ständig im Werden begriffenen Welt.[2] Der Perspektivismus ist der vielleicht tiefste Bordun in Nietzsches Denken; er wird bei ihm zur „Grundbedingung alles Lebens“.[3]
1873 verfasste Nietzsche den für seine Sprach- und Erkenntnistheorie grundlegenden Essay Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne. In diesem zeitlebens unveröffentlicht gebliebenen Aufsatz findet sich gleich zu Beginn folgende Passage:
„In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Thiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmüthigste und verlogenste Minute der „Weltgeschichte“: aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Athemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Thiere mussten sterben. […]“[4]
Es ist der menschliche Intellekt, das Erkenntnisinstrument selbst, das Nietzsche zum Anwalt seiner Erkenntniskritik ernennt. Trotz seiner nichtigen Position innerhalb der unendlichen Natur erfährt der Mensch sich paradoxerweise als das „Centrum dieser Welt“. Dass er qua intelligentia zu ‚klugen‘ Handlungen fähig ist, hebt den Menschen jedoch nicht prinzipiell vom Tier ab; im Dasein erfahren sich beide vielmehr gleichermaßen pathetisch als Mittelpunkt.[5]
Der Grund für diese Hybris besteht laut Nietzsche im täuschenden Charakter des Intellekts, der dem Menschen einen falschen „Werth des Daseins“ vermittelt. Der Intellekt gaukelt seinem Träger einen hehren Selbstwert vor, gespeist aus der hochmütigen Überzeugung, dass ihm allein wahre Erkenntnis der Dinge möglich sei.[6]
Tatsächlich hat der Intellekt für Nietzsche jedoch nur eins zum Zweck: Täuschung. Als Hilfsmittel dient er lediglich dazu, die „unglücklichsten delikatesten vergänglichsten Wesen […] eine Minute im Dasein festzuhalten“ und fungiert damit als reines Instrument des Selbsterhaltungstriebes. Die „Verstellungskunst“ des Intellekts zur Behauptung des Individuums im „Kampf um die Existenz“ kommt im Menschen gleichsam zu ihrem Höhepunkt. Denn nicht nur „das Schmeicheln, Lügen und Trügen“ zum Vorteil gegenüber anderen, auch das „Bühnenspiel […] vor sich selbst“ hat die Natur im Menschen zur Perfektion gebracht: Noch im Schlaf unwidersprochen durch Träume getäuscht und bloß oberflächlich die Welt abtastend, bleiben auch Selbsterkenntnis und Reflexion dem Menschen meist unmöglich.[7]
„Was weiss der Mensch eigentlich von sich selbst! […] Verschweigt die Natur ihm nicht das Allermeiste, selbst über seinen Körper, um ihn, abseits von den Windungen der Gedärme, dem raschen Fluss der Blutströme, den verwickelten Fasererzitterungen, in ein stolzes gauklerisches Bewusstsein zu bannen und einzuschliessen! Sie warf den Schlüssel weg: und wehe der verhängnisvollen Neubegier, die durch eine Spalte einmal aus dem Bewusstseinszimmer heraus und hinab zu sehen vermöchte und die jetzt ahnte, dass auf dem Erbarmungslosen, dem Gierigen, dem Unersättlichen, dem Mörderischen der Mensch ruht, in der Gleichgültigkeit seines Nichtwissens, und gleichsam auf dem Rücken eines Tigers in Träumen hängend. Woher, in aller Welt, bei dieser Constellation der Trieb zur Wahrheit!"[8]
Indem sie den Menschen ‚in ein stolzes gauklerisches Bewusstseinszimmer‘ sperrt, verhindert die Natur also gleichsam per ‚Schutzhaft‘ einen Blick in den desillusionierenden Abgrund menschlicher Existenz. Am berühmten Bild des Tigers, auf dessen Rücken der Mensch träumend sitzt, nicht wissend um das ‚erbarmungslose‘, ‚unersättliche‘ und ‚mörderische‘ Fundament seines Daseins – die (menschliche) Natur selbst – wird Nietzsches Irrationalismus besonders deutlich: Nicht Vernunft und Wahrheitsstreben leiten Nietzsches Menschen, sondern Träumerei und Täuschung über den eigenen Selbstwert.
[2] NF 1887, 9[89] (www.nietzschesource.org/#eKGWB/NF-1887,9[89]).
[3] JGB, Vorrede (http://www.nietzschesource.org/#eKGWB/JGB-Vorrede).
Der Wille zur Nacht
Tobias Könemann würde ihm beipflichten. Der 1985 in Minden geborene Künstler steht in einer langen Tradition des Irrationalen: Inspiriert von Denkern wie Schopenhauer und Nietzsche, beeinflusst von der schwarzromantischen Literatur eines Hoffmann oder Poe und der naturromantisch-melancholischen Malerei Friedrichs, Blechens oder Oehmes, ist er ein legitimer Sohn des 19. Jahrhunderts. Seine Arbeiten atmen einen abgründigen Pessimismus, sind gleichzeitig radikale Zeugnisse der Romantik, was vor allem in seinem Ringen um ein – ganz dem romantischen Kunstprogramm eines Friedrich Schlegel entsprechendes – universalpoetisches Werk deutlich wird.
Universalkünstler sind selten geworden in unserer fragmentierten, spezialisierten Zeit; Tobias Könemann stellt eine trotzige Ausnahme dar. Auf den Spuren E.T.A. Hoffmanns bündelt der studierte Biologe auf programmatische Weise Malerei und Illustration, Literatur, Philosophie, Psychologie und Musik zu einem düsteren Prisma. Gewährte das bereits 2014 veröffentlichte Erstlingswerk Aus Tod wird Heimat mit der schonungslosen Klarheit seiner abgründigen Psychogramme und der im Stil eines Kreuzwegs komponierten Gemälde, Zeichnungen und Fotografien noch einen direkten Blick hinab auf die Brandungszone der Seele, so führt der Künstler mit Das Schwarze Holz einen weit poetischeren Satz seines Requiems auf.
Die sieben illustrierten, verschlungen arrangierten Kurzgeschichten und Gedichte des Bandes führen den Leser tief hinein in den dicken, kalt wabernden Nebel der Karstlandschaften menschlicher Psyche. Im Genre schwarzromantischer Nachtstücke verbinden sich seit jeher Romantik und Pessimismus zu einer bedrohlichen Melange; Könemanns Beitrag könnte dabei kaum aktueller sein.
Vernetzung, Wohlstand, Information und Freiheit durch die digitale Revolution stehen heute wachsender Isolation, globaler Ausbeutung, kognitivem Verfall und Überwachungswahn gegenüber. Ein diffuser Pessimismus bricht sich Bahn angesichts einer Welt, in der nicht mehr Staaten, sondern multinationale Konzerne den Großteil von Reichtum und Macht auf sich verteilen; angesichts einer immer schneller und komplexer werdenden Lebenswelt, in der Geld nicht mehr bloß Gold, sondern Aufmerksamkeit und Daten bedeutet. Die Welt ist heute durch den technischen Fortschritt so entzaubert und bedroht wie niemals zuvor; gleichzeitig erscheint die Wahrheit im Zeitalter sozialer Medien fragiler denn je.
Es sind die Phasen, in denen Fortschrittsoptimismus und Zukunftspessimismus, Rationalität und Irrationalismus so nahe zusammenfallen, dass sie sich förmlich die Hand reichen, in welchen das Romantisch-Phantastische Hochkonjunktur erfährt; etwa in der Romantik selbst, dieser poetisch-irrationalen Antwort auf die rationale Kälte der Aufklärung. Doch auch heute scheinen Fantasy, Science-Fiction und postapokalyptische Szenarien den Nerv der Zeit zu treffen. In Computerspielen bereisen wir mittelalterliche Welten, um in archaischen Bezugsrahmen ein an traditionellen Werten wie Mut, Tapferkeit, Glauben ausgerichtetes Belohnungssystem zu erfahren. Die Sehnsucht nach Simplizität, Dunkelheit und Mystik in einer neonfarbenen, gottlosen Lebenswelt ist es, die uns den romantischen Mond anheulen lässt.
Doch kratzt die Gesellschaft heute mehr denn je an der Oberfläche, saugt gierig den trüben Morgendunst des Romantischen ein und atmet ihn wieder aus. Könemanns Kunst dringt tiefer; seine düsteren Phantasiestücke denunzieren die trügerische Sicherheit des digitalen Zeitalters, hinterfragen unsere Werte, unsere Wahrheit.
Vom Nutzen und Nachteil des Bewusstseins für das Leben
Es ist vor allem die Psychologie, welche Romantiker wie Hoffmann oder Poe mit pessimistischen Philosophen wie dem frühen Nietzsche und seinem ‚Erzieher‘ Arthur Schopenhauer vereint. Thomas Mann schreibt in seinem Essay von 1938 über den Frankfurter Philosophen, von diesem gehe, „über den psychologischen Radikalismus Nietzsche’s, eine gerade Linie zu Freud […].“ Die „Entdeckung des Willensprimats“ und die daraus folgende Vehikelstellung des Intellekts durch Schopenhauer berge eine „skeptisch-pessimistische Psychologie, eine Seelenkunde durchschaubarer Unerbittlichkeit, die dem, was wir Psychoanalyse nennen, nicht nur vorgearbeitet hat, sondern diese selbst schon ist.“[9]
Tatsächlich lassen sich vor allem in den abgründig-schwarzromantischen Werken eines E.T.A. Hoffmann viele Motive finden, die ebenfalls den Primat des Unbewussten, das Triebhafte, gleichsam das Freudsche Es als Handlungsmotor vorwegnehmen. So etwa in der traumatisierten, zerrissenen und von der Realität wie in einen Alptraum entrückten Persönlichkeit Nathanaels im Sandmann (1816), dem mordlustigen Mönch Medardus in den Elixieren des Teufels (1815/16) oder der vom Schicksal gezeichneten, in neurotischer Besitzsucht gefangenen Figur des mörderischen Goldschmieds Cardillac im Fräulein von Scuderi (1819) – überall siegt Wille über Vernunft, erscheinen Triebe und Instinkte als die wesentlichen, bestimmenden Gründe menschlichen Handelns.
Auch in Poes psychologisch tiefschürfenden Nachtstücken offenbart sich der Sog des dunklen Instinkts im Menschen, der diesen wie in einem charybdischen Rausch seinem eigenen Ende gefährlich nahe bringt. So heißt es in The Imp of the Perverse von 1845 über den von einer Klippe ins Verderben Starrenden als Illustration des Kampfes zwischen Vernunft und Trieb:
„We stand upon the brink of a precipice. We peer into the abyss–we grow sick and dizzy. Our first impulse is to shrink from the danger. Unaccountably we remain. […] And this fall–this rushing annihilation–for the very reason that it involves that one most ghastly and loathsome of all the most ghastly and loathsome images of death and suffering which have ever presented themselves to our imagination–for this very cause do we now the most vividly desire it. And because our reason violently deters us from the brink, therefore do we the most impetuously approach it.“[10]
Könemann greift diesen Grundgedanken auf. In Eine zweite Haut setzt er sich intensiv mit dem Abgrund als psychologischem Motiv auseinander. Triebhafte Neugier und die (unbewusste) Lust an der Selbstauslöschung sind es, die den Lehrling schließlich in den Abgrund hinabsteigen und sein eigenes Verderben suchen lassen.
In Anastasia lässt Könemann den ‚Alb der Perversheit‘ in der Gestalt des kindlichen Kutschers gleich selbst auftreten. Der dunkle Trieb wird hier zum pathologischen Phänomen und ständigen Begleiter, zum von der Person abgespaltenen ‚reinen Bösen‘, das den schizophrenen Protagonisten in Halluzinationen heimsucht, durch Eingebungen dessen Taten lenkt und ihm so gleichsam aufsitzt, die Zügel führt. Dabei ist die Spaltung der Seele geradezu notwendig, so Könemann; denn kommt es zum Zusammenprall, zur Selbsterkenntnis der ‚Perversheit‘, droht dem hybriden Menschen die Selbstvernichtung.
[9] Mann, S. 232.
[10] Poe, S. 270.
Zur Pathologie der Moral
Der Gedanke des Unbewussten und Triebhaften erscheint in Könemanns Werk gleichsam als interpretatorischer Generalschlüssel. „Der eigentliche Auftrag der Kunst ist, sie als Werkzeug zu gebrauchen“, heißt es in Aus Tod wird Heimat. „Ein Werkzeug der Translation. Sie ist der Schlüssel, der Ideen und Gedanken in eine visuelle Form translatiert. Meine Ideen und Gedanken. Ich würde mich selbst nie als Künstler beschreiben. Ich bin ein Übersetzer, mehr nicht.“[11] Der Kerngedanke, den Könemann in sein Schwarzes Holz geritzt hat, ist die rationale und moralische Hybris; seine Geschichten sind höhnische Parabeln auf den „vernunftbegabten Menschen“[12].
Besonders deutlich wird das etwa in der bereits 2014 veröffentlichten Kurzgeschichte Die drei Boten: Geradezu genüsslich lässt Könemann hier den Menschen seiner eigenen Bestialität begegnen. Die Erzählung ist dabei fast schon zu nahe am Zitat aus Ueber Wahrheit und Lüge: Der Weise, der den Schlüssel suchte und fand, und der nun die Tür des Bewusstseinszimmers aufsperrt und hinabsieht in den schrecklichen Abgrund – für alle sichtbar und in der Tugend des Asketen ein Vorbild gebend – symbolisiert gleichsam das schlechte Gewissen des noch in ‚Schutzhaft‘ befindlichen Menschen. Die stoische Weisheit und ethische Heiligkeit des alten Einsiedlers weckt in jenem zunächst Scham, schließlich Hass; katalysiert durch den ‚Missionserfolg‘ am jungen Schüler. Gefoltert von Erkenntnis entscheidet der Mensch sich schlussendlich dazu, dass es einfacher ist, den Weisen in den Abgrund zu stürzen, als selbst hineinzublicken; ja, dass er den Anblick nicht ertragen könnte.
Es ist eine tragische Szene, die sich dort im Wald abspielt. Furcht und Ekel vor Selbsterkenntnis sind es, welche die Menschen im Dunkeln lassen, so Könemann. – Doch können sie kollektiv wirklich anders handeln? Sind sie überhaupt dazu in der Lage, zu erkennen? Ist es nicht vielmehr so, wie es auch schon Nietzsche ahnte, dass im Zweifel der Mensch aus eigenem Überlebensinstinkt nicht wagen würde, den Tiger zu reizen?
„Hörst du es auch? Das Bersten ihrer Ordnung und ihrer Gesetze? Sie selbst hören es auch, aber sie wollen es nicht wahrhaben. Ich, der also den Untergang der Ordnung verkündet, löse in ihnen dieses Unbehagen aus. Sie können nicht anders, als mich zu verfluchen.“[13]
Der Einsiedler ist sich seiner Rolle als Prophet einer kommenden ‚Umwertung aller Werte‘ vollauf bewusst. Vor diesem Hintergrund erweisen sich auch das stoische Opfer des Alten und der Tod des Jungen als konsequent: In Könemanns Welt gibt es keine Moral – nur das Spiel mit dem Feuer der menschlichen Natur. Der Mensch ist ein wildes Tier – und der, welcher sich zu seinem Bändiger aufschwingt, wird von ihm zwangsläufig zerfleischt. Dies weiß auch der Alte; und gerade die prophetische Einsicht in seinen bevorstehenden Untergang ist es, die seine Weisheit illustriert.
[11] Könemann 2014, S. 54.
[12] Ebd., S. 31.
[13] Könemann 2017, S. 36f.
Künstler-Dämmerung
In Könemanns Verständnis von Kunst als eines ‚Werkzeugs der Translation‘ der Idee einer im Menschen manifesten zutiefst abgründigen Natur lässt sich auf den ersten Blick eine Parallele zu Schopenhauer und dem frühen Nietzsche erkennen: Die Kunst ist es, welche das „eigentlich Wesentliche der Welt“[14], das triebhaft-blinde Wirken des Willens (Schopenhauer) bzw., nach Nietzsche, die in der Natur wirkenden gegensätzlichen „Triebe“[15] des Begrenzend-Apollinischen (bildende Kunst) und Entgrenzend-Dionysischen (Musik) zur Anschauung bringt. Dennoch bleibt eine unüberwindbare Kluft zwischen Könemann und der pessimistischen „Artisten-Metaphysik“[16] des 19. Jahrhunderts.
Für Schopenhauer ist Kunst das exklusive Werk des Genies:
„Welche Erkenntnißart nun aber betrachtet jenes […] allein eigentlich Wesentliche der Welt, den wahren Gehalt ihrer Erscheinungen, das keinem Wechsel Unterworfene und daher für alle Zeit mit gleicher Wahrheit Erkannte, mit einem Wort, die Ideen, welche die unmittelbare und adäquate Objektität des Dinges an sich, des Willens, sind? – Es ist die Kunst, das Werk des Genius.“[17]
Das Genie allein ist befähigt zur „vollkommenste[n] Objektivität“[18], zu „Erkenntniß“ und „Mittheilung“ der platonischen Ideen, dem „einzige[n] Ursprung“ und „Ziel“ von Kunst überhaupt.[19] Genialität – sprich: Künstlertum – bedeutet für Schopenhauer die Fähigkeit, alle Erkenntniskraft, welche zur Zweckbefriedigung des Willens benötigt wird, diesem temporär zu entziehen, ja der ganzen „Persönlichkeit“ für die Dauer der Ideen-Kontemplation zu entsagen,
„[…] um als rein erkennendes Subjekt, klares Weltauge, übrig zu bleiben: und dieses nicht auf Augenblicke: sondern so anhaltend und mit so viel Besonnenheit, als nöthig ist, um das Aufgefaßte durch überlegte Kunst zu wiederholen […]."[20]
Damit kommt dem Künstler buchstäblich die Rolle eines Instruments der Erlösung zu:
Indem er im Kunstwerk die als „rein erkennendes Subjekt“, also abgelöst von jeglicher dem Willen unterworfenen Erkenntniskraft geschaute Idee anschaulich wiederholt und festhält; und damit dem Kunstrezipienten ebenfalls die Möglichkeit zu „reine[r] Kontemplation, Aufgehen in der Anschauung, Verlieren ins Objekt, Vergessen aller Individualität“ – sprich: zur willenlosen Ideenschau – gibt bzw. erleichtert, hat der Künstler für Schopenhauer entscheidenden Anteil an einer temporären Erlösung vom leidvollen Willenskreislauf aus Begehren, Befriedigung und ewig neuem Begehren – der „Zuchthausarbeit des Wollens“.[21]
In Nietzsches apollinisch-dionysischem Dualismus hat Kunst ebenfalls eine erlösende Funktion. Im Gegensatz zu Schopenhauer jedoch, der in der Kunst die Erlösung vom Willen preist, feiert Nietzsche in ihr – ganz seinem tragisch-lebensbejahenden Grundbass entsprechend – die „Erlösung durch den Schein“.[22]
In Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872) geht Nietzsche von dem Gedanken aus, dass alles Dasein bedingt ist durch den Widerspruch zwischen apollinischem und dionysischem (Kunst-)Trieb, dass dieser sich ewig als Leiden äußernde Widerstreit der Triebe überhaupt erst die Welt, die Realität, wie wir sie erleben, ermöglicht – und gleichzeitig darin seine Erlösung findet: Nietzsches ‚Schein‘ wird zur „Wiederspiegelung des ewigen Urschmerzes, des einzigen Grundes der Welt: der ‚Schein‘ ist hier Widerschein des ewigen Widerspruchs, des Vaters der Dinge“.[23]
Die ‚naive‘ Kunst – die tragisch-harmonische, den grauenvollen Urgrund des Daseins bejahend-verdeckende „Einheit des Menschen mit der Natur“ – das „völlige Verschlungensein in der Schönheit des Scheines“ ist für Nietzsche nun gleichsam die Potenzierung dieser ‚Erlösung im Schein‘: Hier, im „Schein des Scheins“ erkennt sich der Mensch als Individuum selbst und erkennt auch gleichzeitig, dass „die ganze Welt der Qual nöthig ist, damit durch sie der Einzelne zur Erzeugung der erlösenden Vision gedrängt werde“.[24] Der Künstler ist folglich für Nietzsche nur ein „Nachahmer“[25] des bereits metaphysisch in der Natur angelegten Triebes des „Wahrhaft-Seiende[n] und Ur-Eine[n], als [dem] ewig Leidende[n] und Widerspruchsvolle[n]“[26] hin zum ‚Schein‘ unserer empirischen Realität.
Im Gegensatz zu Schopenhauer ist Nietzsches ‚Schein‘ als Begriff für die uns empirisch zugängliche Welt (in Schopenhauers Terminus: ‚die Welt als Vorstellung‘) jedoch nicht negativ konnotiert. Zwar entspringt auch Nietzsches Schein-Welt, wie auch Schopenhauers Vorstellungs-Welt, dem Urgrund des Leidens (beim einen aus ewigem Wollen, beim anderen aus ewigem Widerstreit heraus) – jedoch propagiert Nietzsche im Gegensatz zu Schopenhauer vor diesem Hintergrund nicht die asketische Lebensabwendung als Weg zur Erlösung. Die Einsicht in die ewig sich in der Natur offenbarenden apollinisch-dionysischen Triebe führen bei Nietzsche zu Annahme und Preisung dieser Dasein und Kunst gleichermaßen bedingenden Kräfte; und münden schließlich in der kultischen Verehrung der erlösendsten, weil beide Triebe versöhnenden Kunstform – der griechischen Tragödie.
Auch in der Romantik kommt dem Künstler als dem sehnsuchtsvollen Wanderer auf der Suche nach der ‚blauen Blume‘ (Novalis), als demjenigen, der Natur und damit auch sich selbst neu ästhetisiert, das geheime ‚Wesen der Welt‘ in Kunst übersetzt, eine quasi-transzendente Bedeutung zu. In Eichendorffs romantisch-programmatischer Wünschelruthe (1835) wird der Künstler als Dichter gleichsam zum Magier, welcher der träumenden Natur per „Zauberwort“ ihre schlafenden Geheimnisse, ihr ‚wahres Wesen‘ entlockt, sie „zum singen“ bringt.[27]
Solche ästhetischen Erlösungs- und Erweckungsgedanken sind Könemann gänzlich fremd. Er bringt etwas zur Anschauung – doch das ist mörderisch, gierig, unausweichlich, nichts mehr. Er erlöst, er erweckt niemanden, will es gar nicht. Der Künstler als Genie? „Der Künstler selbst ist ein fürchterlicher Charakter. Ein Selbstdarsteller, der den Anspruch hat, dem Menschen die ‚Augen zu öffnen‘.“[28] Könemanns Kunstbegriff ist ein radikal subjektiver; dennoch vertritt auch er den Anspruch auf Wahrheit – seine Wahrheit. Seine Perspektive. Am ehesten vermag man Könemann hier noch mit dem frühen Nietzsche zu vergleichen, dessen die Schein-Welt über dem Urgrund von Leid und Wehe nachahmende tragische Kunst, dessen lebensnotwendige Täuschung über den irrationalen, grausam-dionysischen Urtrieb – die eigene menschliche Natur – Könemanns Kunstverständnis wohl am nächsten kommt. Dennoch geht Könemann weder den Schritt zur lebensbejahenden, noch zur lebensverneinenden Erlösung. Seine Kunst erlöst nicht; weder ihn, noch seinen Rezipienten. Es ist die radikale Hoffnungslosigkeit, die tief gähnende Desillusion über die eigene ‚Menschlichkeit‘, das eigene ‚Mensch-Sein‘, welche Könemanns Werk in seiner Breite so faszinierend macht. Sein Opus ist synästhetische Dunkelheit.
[14] W I, § 36, S. 251.
[15] GT, 1 (http://www.nietzschesource.org/#eKGWB/GT-1).
[16] GT, Selbstkritik, 7 (http://www.nietzschesource.org/#eKGWB/GT-Selbstkritik-7).
[17] W I, § 36, S. 251.
[18] Ebd., S. 253.
[19] Ebd., S. 252.
[20] Ebd., S. 253.
[21] Ebd., S. 266.
[22] GT, 4 (http://www.nietzschesource.org/#eKGWB/GT-4).
[23] Ebd.
[24] GT, 3 (http://www.nietzschesource.org/#eKGWB/GT-3).
[25] GT, 2 (http://www.nietzschesource.org/#eKGWB/GT-2).
[26] GT, 4 (http://www.nietzschesource.org/#eKGWB/GT-4).
[27] Eichendorff, HKA I/1, S. 121.
[28] Könemann 2014, S. 54.
Über das Pathos der Wachheit
Eine besondere Rolle in der Selbsterkenntnis der menschlichen Natur spielt für Könemann der Traum als unmittelbarste Form menschlicher Wahrnehmung. Bereits in seinem Erstlingswerk hat er sich dazu ausführlich geäußert. Als „älteste[r] und archaischste[r] Form gedanklicher Prozesse“ komme dem Traum grundsätzlich derselbe erkenntnistheoretische Wert zu wie der „bewusste[n] Wahrnehmung“. „Daher gibt es keinen Unterschied in dem Fundament von Realität und Traum.“[29] Dennoch hat der Traum als Quell unterbewusster und damit ungefilterter Eindrücke laut Könemann einen entscheidenden Vorteil:
„Die äußere Realität unterliegt den Grenzen der eigenen Wahrnehmung/Sinne und der eigenen Moral, welche die Realität zensiert. Der Traum hingegen ist die Sprache des inneren Kindes, des primitiven Ichs und der eigenen phylogenetischen Entwicklung. Wünsche, Ängste, Erinnerungen und subliminale Wahrnehmungen des Alltags werden, ohne Zensur der äußeren Realität, benannt und verarbeitet.“[30]
Diesen Primat des Traums bei Selbst- und Welterkenntnis betont Könemann auch in Das Schwarze Holz wieder und wieder, lässt dabei jedoch keinen Zweifel an seiner pessimistischen Weltsicht.
Nebukadnezar ist eine an intensivsten Sinneseindrücken überreiche Fata Morgana aus Tausendundeiner Nacht, deren schillernden Djinn-Nebel Könemann gerade auf ihrem bildgewaltig-realistischen Zenit schlagartig verscheucht, nur um den Leser desto tiefer in Einsamkeit und Desillusion fallen zu lassen. Am Schluss bleibt das dumpfe Gefühl zurück, dass der Mensch allein im Traum zu Freiheit und Erlösung gelangen kann.
Dies deckt sich auf den ersten Blick mit Nietzsches Interpretation des Traums in der Geburt der Tragödie. Der Traum fungiert dort als vorkünstlerische Manifestation des apollinischen Triebs in der Natur, als der natürliche, in jedem Menschen selbst erzeugte ‚Schein des Scheins‘, der ihn den Scheincharakter der Welt erst erahnen lässt. Der Künstler ist gewissermaßen nur ein ‚Nachahmer‘ des Traums:
„Wie nun der Philosoph zur Wirklichkeit des Daseins, so verhält sich der künstlerisch erregbare Mensch zur Wirklichkeit des Traumes; er sieht genau und gern zu: denn aus diesen Bildern deutet er sich das Leben […].“[31]
Auch dem von Nietzsche angeführten Zitat von Hans Sachs aus Richard Wagners Die Meistersinger von Nürnberg (WWV 96, 1868) würde sich Könemann wohl vorbehaltlos anschließen:
„Mein Freund, das grad‘ ist Dichters Werk,
dass er sein Träumen deut‘ und merk‘.
Glaubt mir, des Menschen wahrster Wahn
wird ihm im Traume aufgethan:
all‘ Dichtkunst und Poëterei
ist nichts als Wahrtraum-Deuterei.“[32]
Dennoch bleibt die tiefe Kluft, welche Könemann von seinen romantisch-pessimistischen Vorvätern trennt, auch hier bestehen. Für Nietzsche birgt der Traum etwas zutiefst Positives. Der Künstler, der sich, aus der „tiefe[n] innere[n] Lust des Traumschauens“ heraus zuruft: „es ist ein Traum, ich will ihn weiter träumen“, erfüllt damit die „inbrünstige Sehnsucht zum Schein, zum Erlöstwerden durch den Schein“.[33] In Könemanns Welt jedoch existiert keine Erlösung. Der Traum ist zwar auch für Könemann ein Portal zum eigenen „innerste[n] Kern“[34] – doch dieser birgt nur nacktes Grauen. Seine Träume sind Alpträume, deren Ende dem Erwachenden keine Rettung verheißt. Erfährt der Mensch hingegen tatsächlich einmal im Geist wahrhafte Erquickung, so sind es, wie in Nebukadnezar, eben keine ‚Träume‘ – sondern pathologischer Fieberwahn, Hirngespinste, Trugbilder und Halluzinationen eines Geisteskranken, deren jähes Ende die harte Keule der Erkenntnis ihrer Falschheit nur umso brutaler zuschlagen lässt.
In Die drei Boten erhält der Traum als Vorbote des eigenen Untergangs gar prophetischen Charakter. Damit bewegt sich Könemann wiederum auf romantischem Terrain; schon Novalis erhob Traum und mystische Vision zum Ursprung der Erkenntnis (bzw. Offenbarung) von Seele und Bestimmung. Im postum veröffentlichten Romanfragment Heinrich von Ofterdingen (1802) fällt der Held zu Beginn in einen Traum auf mehreren Ebenen, welcher ihm den Erfahrungsschatz vieler Leben schenkt, seine „Empfindungen […] bis zu einer niegekannten Höhe“ steigert und ihm schließlich, „berauscht von Entzücken und doch jedes Eindrucks bewußt“ in einer „Erleuchtung“ das Bild der blauen Blume schenkt, welches ihm seine Zukunft vor Augen führt.[35] – Allerdings unter weit sehnsuchtsvolleren Vorzeichen. Könemanns Perspektive könnte düsterer nicht sein. Die ‚blaue Blume‘, dieses romantische Sinnbild von Entgrenzung, Unendlichkeit, sehnsuchtsvollem Streben nach Einheit mit der Natur und Ergründung der Geheimnisse von Ich und Welt, steht dabei in merkwürdiger Antithese zu Könemanns Schwarzem Holz: Auch er strebt nach künstlerischer Darstellung der Einheit von Mensch und Natur, auch er erfährt seine ‚Wahrheit‘ im Traum, auch er besitzt sein Symbol. Doch Könemanns ‚blaue Blume‘ ist bis zur Schwärze verbrannt; statt Entgrenzung findet der Suchende in seinem morschen, zerfressenen Holz nur die Larven der eigenen nagenden Angst.
Am tiefenpsychologischsten lässt Könemann Traum und ‚Wahrheit‘ in der effektvollen Schlussparabel Ewige Landschaften verschmelzen. Hier findet sich der Gedanke voll ausgeprägt: „Der tiefste Traum ist der reinen Wahrheit am nächsten.“[36] Der Protagonist, ein passionierter Träumer, der an der Deutung der eigenen Seelenlandschaften zunächst scheitert, findet schließlich im Traum zur Erkenntnis des eigenen Wesens, die ihn jedoch zuletzt in endloser Finsternis zurücklässt.
„Ich konnte den Anblick und vor allem die tiefe Erkenntnis dieser Landschaft nicht mehr ertragen. Zu nah war mir mein innerster Kern vor Augen erschienen. Schnell jedoch wichen der anfängliche Schrecken und die Verzweiflung einem Gefühl tiefster Resignation und Machtlosigkeit. Ein Gefühl, das nur derjenige kennt, der an die äußerste Grenze seiner Erkenntnis gelangt und in den dunklen Abgrund grenzenlosen Alleinseins blickt, aus dessen Schoß er emporgestiegen ist.“[37]
Der Mensch muss schließlich erkennen, dass sein Leben sinnlos ist, dass er der zutiefst empfundenen Einsamkeit und dem alles verzehrenden Tod nichts entgegenzusetzen hat, weder in der bewussten, noch der unterbewussten Realität.
Durch die romantische Erlösungsmotivik in der Beschreibung der dritten Landschaft wie der (vom Künstler) zu ‚erweckenden‘ Natur, deren „Schleier“ nur „von allem abfallen müsste“ um etwas „nie Gesehenes zum Vorschein“ zu bringen, aber auch dem Hinweis auf religiös-romantische Landschaftsmaler wie Caspar David Friedrich und Ernst Ferdinand Oehme weist Könemann zudem auf die Nichtigkeit jedes jenseitigen, göttlichen Reiches hin.[38] Indem er die christlich-romantischen Motive Friedrichscher Kunst und Eichendorffscher Lyrik gerade zur Beschreibung derjenigen Landschaft verwendet, deren poetisches Paradies sich zu guter Letzt in einen Hort der Vergänglichkeit und Finsternis verwandelt, stellt er diesem romantischen Kunstideal von Erweckung und Auferstehung fast schon zynisch seine eigene Perspektive eines ‚ewigen Totenreiches‘ gegenüber.
[29] Ebd., S. 39.
[30] Ebd.
[31] GT, 1 (http://www.nietzschesource.org/#eKGWB/GT-1).
[32] Ebd.
[33] GT, 4 (http://www.nietzschesource.org/#eKGWB/GT-4).
[34] Könemann 2017, S. 112.
[35] Novalis, HKA I, S. 195-197.
[36] Könemann 2017, S. 104.
[37] Ebd., S. 112-114.
[38] Ebd., S. 100.
Jenseits von Gut, diesseits von Böse
In Der Studiosus schließlich offenbart sich der Kern des Schwarzen Holzes. Nicht umsonst entschied der Autor sich für ein Zitat dieser zentralen und längsten Geschichte auf dem Buchrücken; es ist die persönlichste Erzählung des Bandes. In ihr offenbart sich Könemanns Ästhetik am plastischsten.
In der Person des diskussionsfreudigen Besserwissers und Mörders Kubas verbirgt sich auf der einen Seite das Erbarmungslose, Gierige, Grauenvolle; das Irrationale, sich jedem rationalen Erklärungsversuch Entziehende des Willens, der Natur, der Triebhaftigkeit – gleichzeitig ist er derjenige, der eben diesen paradoxen Zwiespalt zwischen Vernunft und abgründiger Animalität, der dem Menschen zutiefst eigen ist, so selbstbewusst und süffisant-offensiv vertritt wie kein anderer.
Er lebt diese innere Wahrheit, die ‚Einheit von Mensch und Natur‘, aus; und ist damit ehrlicher, freier und glücklicher als etwa Jiři, der in seiner noch immer der Hybris intellektueller Hochkultur verhafteten Welt dunkler Phantasiestücke zunehmend in Depression verfällt. Kubas fasziniert Jiři gleichsam auf doppelte Weise: einmal als literarische Inspirationsquelle und anregender Diskussionspartner, andererseits jedoch als Idol einer wahrhaftigen, ungespielten menschlichen Natur.
Man möchte fast meinen, Könemann zeichne uns hier ein literarisches Selbstporträt; dabei scheinen Teile des Künstlers sowohl in Jiři als auch Kubas geflossen zu sein. Jiřis bereits angesprochenes Baudelaire-Zitat fungiert gewissermaßen als Motto des gesamten Bandes:
„Baudelaire? Baudelaire! Dieser samtweiche Franzose! Seine Blumen liegen unter meinem zu kurzen Tischbein! Zu etwas anderem taugen sie nicht. Dunklen Boden mit den Fußspitzen zu berühren, so als ob man die Temperatur eines zu kalten Bades misst, macht einen Menschen noch lange nicht zu einem Vordenker! Es gibt entweder das Schöne oder das Hässliche! Das Gute oder das Böse! Ich will das reinste Böse und Hässliche einfangen! Ohne dabei einen Krüppel zu erzeugen, der sich ohne fremde Hilfe nicht auf den eigenen Beinen halten kann. Keinen Bastard, durch den ich gezwungen werde, mich zu bücken und zu beugen.“[39]
Auch Könemann möchte, wie Jiři, das ‚reinste Böse‘ einfangen. Die hochsensible Décadence-Lyrik eines Charles Baudelaire und dessen kolossalen Alpdruck, den alles zernagenden ‚ennui‘ – welcher ihm das selbstzerfleischende Seelenbegräbnis seiner Fleurs du Mal (1857) bescherte – betrachtet Könemann jedoch, Friedrich Nietzsches später Baudelaire-Rezeption ähnlich,[40] als Symptom einer künstlerischen Schwindsucht, als poetisches ‚Nervenleiden‘; subsumiert unter eine „Litteratur“ des „großen Ekel[s]“[41] und Teil eines verabscheuungswürdigen, weil kränkelnd-schwachen, von „Verzärtlichung“ geprägten (in Jiřis Worten: ‚samtweichen‘) „Pessimismus als Niedergang“[42]. Diese fein verästelten, melancholisch-pessimistischen Hymnen auf Rausch und Überdruss, Erotik und Schmerz, Hässlichkeit und Zerfall, Desillusion und (hoffnungsvolle) Selbstaufgabe in der modernen Großstadthölle sind zwar höchst morbide; unter der Oberfläche jedoch liegt für Könemann wie für Jiři keine tiefere Einsicht in die menschliche Natur verborgen.
Für Nietzsche wie auch Könemann ist der Pessimismus dort wahrhaftig ein „Pessimismus der Stärke“, wo er die Kraft zur schonungslosen Analyse entfesselt und „in der Energie seiner Logik“ den Nihilismus offenlegt;[43] – mit dem Unterschied, dass Könemann (im Gegensatz zu Nietzsche) nicht nach dessen Überwindung strebt: Sein amor fati bedeutet nicht die tragisch-heroische Lebensbejahung eines „dionysischen Pessimismus“, entspringt weder einer „Überfülle“ noch einer „Verarmung des Lebens“, ist weder dionysisch noch romantisch.[44] Es ist vielmehr die naturalistische Annahme einer gnadenlos kalten, nihilistischen Perspektive.
Das „reinste Böse“ ist für Könemann (wie auch Jiři und Kubas) gleichbedeutend mit der menschlichen Natur. Die Kategorisierung als ‚böse‘ erfolgt hier im alltagssprachlich-moralischen Terminus der Mitwelt, welcher Jiři, anders als Kubas, der an Gesellschaften nur noch als süffisanter Beobachter und Provokateur teilnimmt, noch teilweise angehört. So wie es Jiři sichtlich Spaß bereitet, Vašek von der jeder rationalen Erklärung entbehrenden Abgründigkeit des Menschen zu überzeugen, indem er ihm genüsslich und in allen Details die Geschichte des bestialisch mordenden Kindes erzählt, so legt auch Könemann seine Perspektive in jedem seiner Werke aufs Neue mit Enthusiasmus offen. Doch diese ist nicht moralisch; – Es ist der unbewegte, nüchtern-analytische Blick des Naturwissenschaftlers, welcher den ‚Künstler‘ leitet: Das Schwarze Holz – wir alle sind aus ihm geschnitzt, so Könemann.
[39] Ebd., S. 50.
[40] Vgl. Pestalozzi 1978, S. 170-178.
[41] NF 1887, 11[159] (http://www.nietzschesource.org/#eKGWB/NF-1887,11[159]).
[42] NF 1887, 9[126] (http://www.nietzschesource.org/#eKGWB/NF-1887,9[126]).
[43] Ebd.
[44] FW, 370 (http://www.nietzschesource.org/#eKGWB/FW-370).
Ecce homo – nosce te ipsum
Wenn Könemann uns mit seiner Kunst eines mitgeben möchte, dann ist es die Einsicht, dass wir den Tod nicht aufhalten, Natur nicht kontrollieren können – am wenigsten uns selbst. In der menschlichen Natur offenbart sich die ganze Tragik des Daseins: Gefangen im hermetischen Bewusstsein nähren wir die Furcht vor uns selbst wie den Bandwurm im eigenen Leibe. Wehe demjenigen, der einmal den Blick hinauswagte und der, für alle sichtbar, stoisch, heilig, nun hinabsähe in den finsteren Abgrund; dem Erbarmungslosen, dem Gierigen, dem Mörderischen ins Angesicht blickend, über welchem der Mensch so arglos in Träumen thront. Lieber schlügen wir ihn tot, als unser Gewissen langsam sieden zu lassen wie Diokletian einst den Veit; denn selbst den Blick in den schwarzen Spiegel zu wagen, immer wieder aufs Neue ihm zu begegnen – dieses Martyrium zu ertragen bleibt allein den wahrhaftigen Künstlern vorbehalten.
Wahrhaftigkeit bezeichnet im philosophischen Sinne die sittliche Forderung nach Übereinstimmung von Aussage und Verhalten mit der eigenen Wahrheits-Überzeugung; ebenso den nach solcher Kongruenz strebenden Charakter.[45] Irrationalismus ist „die metaphysische Lehre, daß das Wesen der Welt der ratio nicht zugänglich oder daß der Ursprung der Welt und damit der Ausgangspunkt der Weltanschauung irrational oder das Irrationale, das Unergründliche selbst sei“.[46]
Tobias Könemann hat die intuitive Einsicht in Letzteres bereits vor langer Zeit erlangt. Seine Kunst ist wahrhaftiger Ausdruck einer pessimistischen Perspektive: Wir alle reiten täglich den Tiger am Rande des Abgrunds. Unsere Moral? Unsere Wahrheit? – Feuchte Träume, so Könemann. Der Optimist? „Ein Mensch, der Scheuklappen einer Brille vorzieht.“[47] Leben und Tod? Nichts als Launen der Bestie.
Könemann rüttelt als Künstler an den Festen unserer rationalen Weltordnung. Anstatt dem Optimismus die rettende Hand zu reichen, versetzt er ihm den Stoß von der Klippe, hinein in die gähnende Schwärze des Höllenschlunds conditio humana. Dessen Echo hallt laut wider:
heic noenum pax –
hier gibt es keinen Frieden.
[45] Vgl. Regenbogen/Meyer, S. 715.
[46] Ebd., S. 328.
[47] Könemann 2014, S. 32.
Tobias Könemann, Mai 2019
Literaturverzeichnis
Primärliteratur
Eichendorff, Joseph Freiherr von: Gedichte. Erster Teil: Text, in: Ders., Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, Bd. I/1, hg. v. Harry Fröhlich / Ursula Regener, Stuttgart u.a. 1993.
Könemann, Tobias: Aus Tod wird Heimat, Söhrewald 2014.
Könemann, Tobias: Das Schwarze Holz, Söhrewald 2017.
Lepore, Jill: After the fact. In the history of truth, a new chapter begins, in: The New Yorker, March 21 (2016). [http://www.newyorker.com/magazine/2016/03/21/the-internet-of-us-and-the-end-of-facts] (zuletzt 08.05.2019)
Mann, Thomas: Schopenhauer, in: Ders., Ausgewählte Essays, Bd. 3: Schriften über Musik und Philosophie, ausgew., eingel. und erl. v. Hermann Kurzke, Frankfurt/M. 1978 [EA 1938], S. 193–234.
Nietzsche, Friedrich: Digital critical edition of the complete works and letters, based on the critical text by Giorgio Colli and Mazzino Montinari, Berlin/New York, 1967-, edited by Paolo D’Iorio. [http://www.nietzschesource.org/#eKGWB] (zuletzt 08.05.2019)
Novalis: Heinrich von Ofterdingen, in: Ders., Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Historisch-kritische Ausgabe, Bd. 1: Das dichterische Werk, hg. v. Paul Kluckhohn / Richard Samuel, 3., nach d. Hs. erg., erw. u. verb. Aufl., Stuttgart 1977, S. 193-334.
Poe, Edgar Allan: The Imp of the Perverse, in: Ders., The Short Fiction of Edgar Allan Poe. An Annotated Edition, hg. v. Stuart Levine / Susan Levine, Urbana/Chicago 1976, S. 268–271.
Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung I und II, nach den Ausgaben letzter Hand hg. v. Ludger Lütkehaus, München 32005.
Sekundärliteratur
Pestalozzi, Karl: Nietzsches Baudelaire-Rezeption, in: Nietzsche-Studien 7 (1978), S. 158-179.
Regenbogen, Arnim / Meyer, Uwe (Hgg.): Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Hamburg 2013 (Philosophische Bibliothek 500).